Die römische Kreuzigung
Die Kreuzigung nach römischer Art wurde nicht immer in der Weise durchgeführt, wie sie gewöhnlich in Gemälden und Zeichnungen gezeigt wird. Wie in dieser Broschüre erläutert, wurden die Hände des Opfers höchstwahrscheinlich nicht ans Kreuz genagelt, denn so hätte das Gewicht des Gekreuzigten nicht gestützt werden können. Stattdessen wurde ein Opfer an seinen Handgelenken festgenagelt, oder seine Arme wurden am Kreuz festgebunden.
Hinzu kommt, dass die Form des Kreuzes nicht immer die war, die man in vielen bildlichen Darstellungen der Kreuzigung Jesu sieht. Dazu lesen wir in dem Anchor Bible Dictionary Folgendes: „Gelegentlich war das Kreuz ein einziger aufrechter Pfahl. Oft wurde jedoch ein Querbalken daran befestigt, entweder ganz oben, womit die Form eines T entstand (crux commissa), oder direkt unterhalb der Spitze – die als christliches Symbol bekannte Form (crux immissa). Die Opfer trugen das Kreuz selbst oder zumindest den Querbalken (patibulum) an die Stätte der Hinrichtung. Dort zog man ihnen die Kleider aus, nagelte bzw. band sie an den Balken, stellte sie dann aufrecht, wo sie auf dem sedi- le saßen, das heißt auf einem kleinen Pflock an dem aufrechten Pfahl . . .
Die Form der Hinrichtung konnte von den Ausführenden variiert werden, wie Seneca der Jüngere [römischer Historiker] berichtet: ,Ich sehe dort die Kreuze, nicht einer einzigen Art, sondern vielfältiger Art. Manche [Kreuze] haben ihre Opfer mit dem Kopf direkt über dem Boden; bei ei- nigen sind die Genitalien aufgespießt, bei anderen sind die Arme auf dem Querbal- ken ausgebreitet.‘
In seinem Bericht über das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge aus Jerusalem [beim ersten jüdischen Krieg in den Jahren 67-70 n. Chr.] kann man bei Josephus [jü- discher Historiker des 1. Jahr hun derts] nachlesen, dass es kein festgelegtes Mus - ter für die Kreuzigung gab. Viel hing von dem augenblicklichen sa distischen Einfall ab“ (David Noel Freedman, 1992, Band 1, Seite 1208-1209).
Die Form des Kreuzes wird in der Bibel nicht genau beschrieben
Das Wort, das im Neuen Testament mit „Kreuz“ übersetzt wurde, ist das griechische Wort stauros, womit „in ers ter Linie ein aufrechter Pfahl oder Balken ge- meint ist . . . Sowohl das Hauptwort [stau- ros] als auch das Verb stauroo mit der Be- deutung ,an einem Pfahl oder Balken be- festigen‘ sind in ihrem Ursprung von der religiösen Form eines Kreuzes aus zwei Balken zu unterscheiden“ (Vine’s Exposi- tory Dictionary of Old and New Testament Words, 1985, Stichwort „Cross, Crucify“).
Die Bibel enthält keine genaue Be- schreibung des stauros, an dem Jesus starb. In nichtbiblischen griechischen Schriften des 1. Jahrhunderts wurde das Wort stauros in Bezug auf Holzstücke diverser Art verwendet, sowohl mit als auch ohne einen Querbalken.
Wäre es wichtig, dass wir die genaue Form des Kreuzes wissen, hätten die Au- toren der Evangelien diese Details nieder- schreiben können. Doch keiner von ihnen tat es. Wichtig ist unser Verständnis des Opfers, das Jesus mit seinem Leben für uns zu bringen bereit war.
Wenn wir nicht genau wissen, ob Je- sus an einem aufrechten Pfahl oder ei- nem Kreuz hingerichtet wurde, wie kam es dazu, dass das T-förmige Kreuz zum beliebtesten Symbol des Christentums wurde? Das bereits zitierte Nachschlage- werk Vine’s Expository Dictionary schreibt dazu:
„Die Form [des Kreuzes mit Querbal- ken] hatte ihren Ursprung im alten Chal - däa und wurde als Symbol des Gottes Tam muz verwendet (in der Gestalt des mys tischen Tau, des Anfangsbuchstabens seines Namens) in jenem Land und in den angrenzenden Ländern, Ägyp ten einge- schlossen. Bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. hatten sich die Kirchen von gewis- sen Lehren des christlichen Glaubens dis - tanziert bzw. sie ins Lächerliche gezogen.
Um das Ansehen des abtrünnigen reli- giösen Systems zu fördern, wurden Hei- den in die Kirchen aufgenommen . . . [sie] durften weitgehend ihre heidnischen Zei- chen und Symbole behalten. So wurde das Tau bzw. das T in seiner häufigsten Form, mit einem von oben versetzten Quer - balken, als Symbol für das Kreuz Christi übernommen“ (ebenda).
Daran erkennen wir, dass das allgemei- ne Symbol für Jesus in Wirklichkeit lange vor Jesu Geburt und der Entstehung des wahren Christentums verwendet wurde. Dass Jesus für uns geopfert wurde, ist eine grundlegende Erkenntnis für unsere Bezie- hung zu Gott, die Verwendung des Kreu- zes als Symbol hingegen nicht.